Die letzte Untersuchung

Lieber Milo,

Heute Donnerstag über Mittag war die letzte Untersuchung im Spital vor dem geplanten Kaiserschnitt. Deine Mama meinte zwar, dass dein Papa bei der Arbeit bleiben könnte, es sei ja nur eine Routineuntersuchung. Dein Papa wollte aber trotzdem dabei sein.

Es war ein sonniger, sehr warmer Tag. Wir wurden in ein Zimmer geführt, um ein letztes Sonogramm zu erstellen. Dazu legte eine junge Hebamme zwei kleine Geräte auf den Bauch deiner Mama, um deine Herzgeräusche abzuhören.

Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Hebamme konnte dein kleines Herz nicht schlagen hören. Sie versuchte es mit einem anderen Gerät, an anderen Stellen am Bauch, aber auch das half nicht. Papa wurde ganz still und bekam grosse Angst.

Die Hebamme ging kurz raus, und eine zweite kam zu uns ins Zimmer. Als Mama fragte, ob sie nun die andere Hebamme ablösen würde meinte sie, die junge sei gerade am Telefon. Da wurde auch deiner Mama bewusst, dass irgendetwas schlimmes passiert war.

Die zweite Hebamme versuchte ebenfalls alles, um deine Herztöne zu finden. Die junge Hebamme kam zurück, dann eine Ärztin, dann eine zweite, dann die Oberärztin. Es wurde ein Ultraschall durchgeführt, und dann war es klar – dein kleines Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Für uns brach eine Welt zusammen. Wir weinten so sehr wie wahrscheinlich noch nie zuvor in unseren Leben. Wie konnte das passieren? Einen Tag später hätten wir dich in unseren Armen halten sollen, nach fast zehn Monaten Schwangerschaft.

Du warst, bist, unser absolutes Wunschkind. Fast vier Jahre hatten wir auf diesen morgigen Tag gewartet, darauf, dass du in unser Leben trittst. Es war eine schwierige, aufreibende und kräftezehrende Zeit gewesen, aber wir hatten unseren Wunsch, unser gemeinsames Ziel immer vor Augen: Eine kleine Familie zu werden, mit dir als Mittelpunkt.

Der Schock sass tief, der Schmerz war unerträglich. Wir konnten kaum begreifen was gerade passiert war, kaum einen klaren Gedanken fassen. Und doch mussten wir Entscheidungen treffen.

Es wurde deiner Mama empfohlen, dich auf natürlichem Weg zu gebären. Das sei vor allem für ihre Psyche erwiesenermassen wichtig, meinten die Ärztinnen. Den Zeitpunkt könnten wir bestimmen, es sollte jedoch bald erfolgen. Wir beschlossen, im Spital zu bleiben und mit der Einleitung der Geburt am gleichen Tag zu beginnen.

Uns wurde angeboten, eine Fotografin des Vereins Herzensbilder anzufragen, die Fotos von dir machen würde nach deiner Geburt. Wir waren zuerst verwirrt und fanden es irgendwie makaber. Die Hebamme empfahl es uns aber ausdrücklich, und wir stimmten zu. Diese Entscheidung sollte sich später als unglaublich wichtig und richtig erweisen.

Dein Papa schrieb seinem Vorgesetzten was passiert war – denn eigentlich hätte er ja schon längst wieder im Büro sein sollen. Auch rief er deine Gotte an und bat sie und ihren Mann um Hilfe. Sie liessen alles stehen und liegen und kamen direkt ins Spital. Während sie bei deiner Mama blieb, fuhr er mit deinem Papa nach Hause, um Kleider und das Allernötigste zu holen, und fuhr Papa in unserem Auto zurück ins Spital.

Da waren wir nun, in einem grossen Geburtsraum des Spitals. Dies sollte für die nächsten Tage unser neues Zuhause werden.

Wir lieben dich,

Mama und Papa

Drei Tage Ewigkeit

27. August 2023