Drei Tage Ewigkeit
Lieber Milo,
Es ist Freitag, draussen regnet es. Gestern erhielten Mama un Papa die traurigste Nachricht in ihrer beider Leben. Wir werden dich nicht aufwachsen sehen, werden dir nie deine Windeln wechseln können, werden keine schlaflosen Nächte haben. Ach wie hätten wir uns das alles gewünscht.
Seit gestern sind wir im Spital, deine Mama bekommt Medikamente um die Geburt einzuleiten. Ihr Körper ist von sich aus noch nicht so weit, denn der für heute eigentlich geplante Kaiserschnitt war für Anfang 39. Schwangerschaftswoche angesetzt, also zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin.
Wir sind voller Trauer und Schmerz, suchen nach Antworten. Wie konnte das nur passieren? Warum gerade uns? Deine Mama war die wohl vorsichtigste Mama der Welt. Sie hat konsequent auf alles verzichtet, was dir nur ansatzweise hätte schaden können. Keine Produkte aus Rohmilch, kein Gelato, keine scharfen Gewürze. Keine Salami, kein rohes Fleisch, und wenn Fleisch, dann musste es «Well Done» sein – mindestens.
Deine Mama hat leichte Wehen, die jedoch kaum stärker werden. Nach diesem Tag scheint kein Fortschritt spürbar, deshalb wird die Dosierung erhöht.
Der Samstag ist weiterhin regnerisch und fühlt sich genauso an wie der Tag zuvor. Die Wehen werden kaum stärker, der Muttermund ist weiterhin geschlossen. Es scheint, als möchtest du nicht geboren werden und damit den sicheren Ort unter dem Herzen deiner Mama verlassen. Aber es geht leider nicht anders.
Das Geburtszimmer ist gross, zum Glück dürfen wir hier drin bleiben. Es gibt uns Raum zum Atmen in dieser schweren Zeit. Es wird für uns zum sicheren Ort, den wir nicht verlassen müssen, wenn wir nicht wollen.
Die Hebammen sind unglaublich nett zu uns, sehr verständnisvoll und hilfsbereit. Sie bringen uns Tee, versorgen uns mit Essen, geben Ratschläge und hören manchmal einfach nur zu. Ohne sie hätten wir das ganze nie durchgestanden.
Auch am Sonntag regnet es, und es ist kaum ein Fortschritt spürbar. Die Wehen deiner Mama sind zwar deutlich stärker geworden, sind mittlerweile auch schmerzhaft. Aber die Geburt scheint immer noch in weiter Ferne.
Deine Mama sagt, sie könne bald nicht mehr. Sowohl körperlich als auch psychisch sei sie am Ende ihrer Kräfte. Aber deine Mama ist unglaublich stark, viel stärker als sie selbst glaubt. Seit drei Tagen weiss sie, dass du, unser geliebter Sohn, nicht mehr lebst. Und dennoch gibt sie nicht auf, wie bei allem was sie macht. Sie ist eine Kämpferin.
Die Ärztinnen empfehlen uns eine weitere Methode, um den Körper deiner Mama auf die Geburt vorzubereiten. Diese wird den gewünschten Effekt erzielen, und diese drei Tage gefühlte Ewigkeit beenden.
Wir lieben dich,
Mama und Papa

