Komplikationen
Lieber Milo,
Die letzten Stunden während deiner Geburt waren unbeschreiblich schmerzhaft. Für deine Mama, die dich ohne ausreichende Betäubung auf die Welt brachte, aber auch für deinen Papa, der machtlos und hilflos daneben stehen musste. Aber wir beide wussten, dass es nicht anders geht, und dass wir jeden noch so schweren Weg gemeinsam gehen.
Als die Wehen deiner Mama frühzeitig aufhörten, musste sie dich mit eigenen Kräften gebären. Als du dann geboren warst und Papa dich zum ersten Mal sah, dachte er: Du bist so schön, einfach perfekt – wieso kannst du nicht einfach deine Augen öffnen, zu schreien beginnen?
Deiner Mama ging es anschliessend leider nicht gut. Bei jeder Geburt verliert eine Frau dort Blut, wo die Plazenta an der Gebärmutterwand haftete. Es braucht ein wenig Zeit, bis sich die Gebärmutter durch Nachwehen zusammenzieht und diese offene Wunde verschliesst. Doch da bei deiner Mama die Wehen frühzeitig aufhörten war dies nicht möglich.
Deinem Papa fiel auf, dass deine Mama sehr blass im Gesicht wurde und kaum mehr ansprechbar war. Plötzlich wurde es kritisch und Papa drückte den Notfallknopf. In kurzer Zeit wimmelte es im Zimmer von Hebammen und Ärztinnen. Neue Zugänge wurden gelegt und es wurde versucht, die Blutung zu stoppen, leider vergeblich. Deine Mama hatte schon viel Blut verloren, deshalb wurde sie schnellstmöglich in den Notoperationssaal verlegt, der sich gleich auf der anderen Seite des Flures befand.
Dein Papa durfte nicht mit und blieb mit dir im Gebärzimmer zurück. Plötzlich gingen deinem Papa die schlimmsten Gedanken durch den Kopf. Am letzten Donnerstag ging er ins Büro, voller Vorfreude auf die baldige Geburt. Und nun könnte es sein, dass er ganz alleine in die Wohnung zurückkehrt. Das dürfe nicht passieren, sagte er sich immer und immer wieder.
Kurz darauf kam eine Hebamme zu Papa, damit er nicht alleine sein muss. Dein Papa hatte noch nie solche Angst wie in diesen knapp zwei Stunden, während deine Mama operiert wurde. Irgendwann kam dann die erlösende Nachricht, dass alles gut gegangen sei.
Am späteren Nachmittag waren wir zurück im Gebärzimmer. Die Hebammen schlugen uns vor, dich so bald wie möglich zu uns zu holen. Sie wuschen und kleideten dich ein, um dich am Abend zu uns ins Zimmer zu bringen.
Wir lieben dich,
Mama und Papa
